Das Bärensiegel von Çatal Höyük

In Çatal Höyük wurde 2005 ein Siegel mit der Darstellung eines Bären gefunden, dessen Fund für einiges Aufsehen gesorgt hat. Im Katalog der Austellung "Die ältesten Monumente der Menschheit - Vor 12.000 Jahren in Anatolien" (Karlsruhe 2007) wird es erstmals der deutschen Öffentlichkeit präsentiert. Mitgeliefert wird die Interpretation des Bärensiegels als reine Tierdarstellung. Damit verbunden wird die Behauptung aufgestellt, die Annahme einer Muttergöttin in Çatal Höyük sei nicht mehr haltbar. Diese wissenschaftlich nicht belegte Meinungsäußerung sowie einige Falschaussagen bedürfen einer Gegendarstellung. Daher seien an dieser Stelle die Rezensionen von Gabriele Uhlmann und Dr. Gerhard Bott veröffentlicht.

Gegenüberstellung der Plastiken im Katalog

Rezension zum Katalog der Ausstellung "Die ältesten Monumente der Menschheit - Vor 12.000 Jahren in Anatolien." vor dem Hintergrund des Fundes eines Bärensiegels in Çatal Höyük. Von Gabriele Uhlmann


Erfreulich ist, dass die Grabungsarbeiten in Çatal Höyük und Göbekli Tepe so gut vorankommen, und viele haben sich auch auf die Ausstellung der Funde gefreut. Diese und andere aktuelle und ältere Grabungsprojekte sind im Frühjahr 2007 Gegenstand der Landesausstellung im Schloss Karlsruhe - Die ältesten Monumente der Menschheit - Vor 12.000 Jahren in Anatolien. Keine Ausstellung ohne Sensation, auch diese nicht, doch diesmal sind Viele maßlos enttäuscht. Enttäuschung nicht von den Exponaten, die wirklich sehenswert und gut präsentiert sind, sondern von den MacherInnen des Kataloges, in den viele Sachkundige und Interessierte schon vorab nicht wenig Geld investiert haben. Um den Rahmen des an dieser Stelle Möglichen nicht zu sprengen, liegt der Fokus auf dem Aufsatz von Marion Cutting mit dem Titel 'Wandmalereien und -reliefs im anatolischen Neolithikum. Die Bilder von Çatal Höyük'. Dieser Aufsatz bespricht die eigentliche "Sensation" der Ausstellung:

Der Fund eines kleinen Siegels und seine großen Folgen

"Die Theorie der Muttergöttin wird durch ein im Jahr 2005 gefundenes Stempelsiegel in Tiergestalt - wahrscheinlich eines Bären - entgültig widerlegt (...)" (S. 133)

So weit lehnt sich Marion Cutting aus dem Fenster. Folgerichtig setzen die AutorInnen des Kataloges das Wort Göttin, das auch sie mehrmals benutzt, überwiegend in Gänsefüßchen. Kleinlaut als Bildunterschrift (siehe Abb.) relativiert sich die Härte dieser Aussage:
"Die neue Entdeckung aus dem Jahr 2005 gibt Anlass zur Vermutung, dass die Wanddarstellungen keine Göttinnen waren, sondern Tiere. Sollte dies der Fall sein, stehen viele Theorien über die Muttergöttin in Frage." (S. 128)

Also nur Vermutungen. Zudem könnten ganze Theorien der Muttergöttin nur in Frage gestellt werden, jedenfalls nicht ohne weiteres widerlegt. Das lässt für die Zukunft hoffen, doch die Theorie der Muttergöttin im Haupttext als widerlegt zu erklären, ist nicht nur gewagt, sondern unwissenschaftlich. Der Katalog liest sich im Übrigen auch wie eine Kampfschrift gegen die Erforschung matristischer Gesellschaften und deren wichtigste Vertreterin Marija Gimbutas.

Marija Gimbutas' Theorie - Gefahr für wen?

"Mellaarts Auffassung der Skulpturen und Malereien hat die Sicht vieler Menschen auf Çatal Höyük beeinflusst. M. Gimbutas beispielsweise führt die Verwendung des Schmetterlings bei der Darstellung einer Göttin in der späteren minoisch-mykenischen Religion auf schmetterlingsartige Formen aus Çatal Höyük zurück.", schreibt Cutting auf Seite 133.

Dieser Unsinn bedarf einer Gegendarstellung. Das wohl gemeinte Zitat liest sich wie folgt richtig:
"Die Epiphanie der Göttin als Biene ist auf einem Stierkopf aus Bilcze Zlote (Cucuteni, 3500 v.Chr.) eingraviert, in Knochen geritzt. Der Körper der Göttin ist ein Stundenglas, deren erhobene Arme sind gabelig gespreizt und ihr Kopf ist angedeutet. Aber die Tradition ihrer Epiphanie als Biene oder Schmetterling war zu dieser Zeit schon tausende Jahre alt. Ein Schmetterlingszeichen in der Nähe eines Stierkopfes auf dem Wandbild eines Schreines aus Çatal Höyük (A VI, 6, c. 6500 v.Chr.) ist von Wirbeln flankiert. Das Schmetterlingszeichen in Kombination mit Wirbeln ist ebenso eingeritzt auf Bandkeramik-Gefäßen aus Mitteleuropa um 5000 v.Chr." (aus: "The Language of the Goddess", Seite 270)

Richtig ist, dass Marija Gimbutas (1921-1994, Professorin für europäische Archäologie in Los Angeles, UCLA) die Formen in dieser Art gedeutet hat. Unterschlagen wird jedoch, dass sie ihr umfassendes Hauptwerk "Die Zivilisation der Göttin" über die Ikonographie der Göttin der matristischen Zeit erarbeitet hat. Darin ist Çatal Höyük nur ein kleiner Baustein. Marija Gimbutas' Sicht auf Çatal Höyük ist die Folge ihrer Forschungstätigkeit in Südosteuropa. Marija Gimbutas studierte, bevor sie Archäologin wurde, Ethnologie, Linguistik und Volkskunde. Aufbauend auf den Funden, mit einem Anteil von 97% weiblicher Darstellungen, entwickelte sie ihre Theorie. Ihr Verdienst ist, die Tradition der Symbolik über die Jahrtausende hinweg zu erkennen, die Funde zu ordnen und zu deuten. Wenn Marion Cutting den Eindruck erweckt, sie plappere Mellaarts Deutungen nach, ist dies falsch und unverschämt. James Mellaart (geb. 1925, Professor in Istanbul, Direktor des britischen Instituts für Archäologie in Ankara) gab ihr keinen Anstoß, sondern lieferte nur zufällig am Ende des bekannten Zeitvektors liegendes Material für ihre Theorie. Ihm gelang es 1967 gerade einmal eine Parallele zu ziehen zwischen Funden aus Çatal Höyük und altsteinzeitlichen Statuetten, gefunden in Petersfels (Baden), die eine fast gleiche Formung aufweisen. In seinem wichtigen Buch "The Neolithic of the Near East" benennt er Marija Gimbutas als seine wichtigste Quelle für den bulgarischen Raum.

In einem anderen Aufsatz des Kataloges zieht Svend Hansen (S. 194) gegen Marija Gimbutas zu Felde:
"Zwar steht die Wissenschaft Versuchen, die verschiedenen historisch überlieferten Muttergottheiten auf eine 'Große Göttin' in prähistorischer Zeit zurückzuführen, weitgehend ablehnend gegenüber (Borgaud 2000), Interpretationen, denen zufolge die Statuetten eine 'Große Göttin' in verschiedenen Aspekten darstellen, sind dennoch populär. M. Gimbutas (1995) propagierte eine 'Zivilisation der Göttin', die auf Ackerbau und Sesshaftigkeit in größeren Siedlungen beruhte, egalitär und matrilinear organisiert und darum friedvoll und kunstliebend war. Auch wenn der klischeehafte Charakter dieser Interpretation leicht zu durchschauen ist (Röder/Hummel/Kunz 1996), sind es gerade die Statuetten, welche immer wieder als scheinbar 'handfeste' Belege hierfür herangezogen werden. Dabei wird häufig suggeriert, es handele sich fast ausschließlich um Darstellungen von Frauen (bzw. Göttinnen), was jedoch keineswegs der Fall ist."

Fakten stehen dieser unwissenschaftlichen Meinungsäußerung gegenüber:
- 97% Frauendarstellungen in Südosteuropa. Kriegerische Auseinandersetzungen sind für die matristische Zeit nicht nachweisbar.
- Marija Gimbutas war keine populärwissenschaftliche Autorin, sondern anerkannte Wissenschaftlerin.
- Dass einzelne AutorInnen diese Erkenntnisse als Klischee bezeichnen, kann darauf zurückzuführen sein, dass immer mehr ForscherInnen die patriarchal geprägte Wissenschaft für ihr Denken in Klischees anprangern.

Wir haben es offensichtlich mit einer Retourkutsche zu tun. Weitere gravierende Fehler finden sich bei Marion Cutting, daher zurück zu Inhaltlichem.

Die Bärengöttin

Haltlos ist Marion Cuttings Aussage - sinngemäß - dass Tiere keine Göttin abbilden können. Allein die herausragende Position der fraglichen Reliefs, die über allem zu schweben scheinen, deuten auf eine besondere, religiöse Bedeutung hin. Tiere waren und sind in vielen Religionen vergöttlicht oder werden als Totemtiere verehrt. Die ägyptischen Gottheiten Bastet (Katze) und Anubis (Schakalkopf auf Menschenkörper) oder die indischen Gottheiten Ganesha (Elefant) und Hanuman (Affe) sind Beispiele dafür. Marija Gimbutas, die selber in Südosteuropa ausgegraben hat, hat unzählige Beispiele für Kultbilder in Tierform zusammengetragen und verglichen. Schmetterlingsabbildungen aus Çatal Hüyük erwähnte sie in ihrem Hauptwerk übrigens eher marginal:
"Alle anderen Symbole in den Tempeln von Çatal Hüyük, die mit der Göttin und Stierköpfen in Zusammenhang stehen, sind Symbole der Lebensenergie und Erneuerung: Dreieck, Doppeldreieck, Wabenmuster, Schmetterlingspuppe, Vulva und Phallus, Bürstenstrich und Handabdruck, Pflanzen und Tiere, lebensspendendes Wasser oder Fruchtwasser. In der Vielzahl der Tempel und in den Malereien und Reliefs darin drückt sich eine permanente Beschäftigung mit der Kontinuität des Lebens aus." ("Die Zivilisation der Göttin", Seite 256)

Marija Gimbutas schlug vor, die Relief-Darstellungen aus Çatal Höyük als Froschgöttin zu deuten. Ein durchaus plausibler Gedanke: Frösche und Kröten waren im nahe gelegenen Flusssystem ein gewohnter Anblick und des Nachts durch das Quaken präsent, genauso naheliegend ist, eine solche Göttin zu erfinden. Das Bärensiegel war ihr noch unbekannt, doch auch für dieses Tier fand sie viele Beispiele einer Vergöttlichung. Sie behandelt die Kategorie Bärengöttin ausführlich ("Die Zivilisation der Göttin", Seite 225/226). Danach verkörpert der Bär/die Bärin die Große Göttin in ihrem Mutter-Aspekt, was sie kulturgeschichtlich belegt. Das deutsche Wort ge-bär-en ist kein Zufall und im Litauischen wird eine Gebärende "Bärin" genannt. Der Fund einer Terrakotta-Figur der Vinça-Kultur mit Menschenkörper und Bärenkopf illustriert ihre These. Wahrscheinlich hätte sie sich "tierisch" über den Fund aus Çatal Höyük gefreut!

Marion Cutting hat weder das Werk der Marija Gimbutas gründlich gelesen noch verstanden. Marija Gimbutas sah, das muss ebenfalls ergänzt werden, in der Göttin keine reine Muttergöttin, die allein den schöpferischen Aspekt verkörpert, sondern die Große Göttin, die die drei Lebensphasen untrennbar in sich vereint: Kindheit, Adoleszenz und Tod. Die Große Göttin war kein genaues Abbild des Menschen wie in patriarchaler Zeit, sondern ein Abbild aller Wesenheit der Natur. Daher ist die Ikonographie der Großen Göttin nicht auf Bärin, Frosch, Kuh, Schmetterling, Menschenfrau oder was auch immer festgelegt.

Die Göttin auf dem Leopardenthron

In diesem Sinne müssen wir auch die berühmte Göttin auf dem "Leopardenthron" erfassen, eine kleine Skulptur, die Mellaart in Çatal Höyük fand. Sie vermissen wir schmerzlich in Marion Cuttings Aufsatz, denn der Fund hat großen Einfluss auf die Gesamtdeutung. Schon im Aufsatz 'Anatolien vor 12 000 Jahren. Die Skulpturen des Frühneolithikums' von Klaus Schmidt (mit Harald Hauptmann), dem Ausgräber Göbekli Tepes, findet sie am Rande Erwähnung. Er versteigt sich dabei zu einer Sensationsberichterstattung, die seines Gleichen sucht. Masse statt Klasse ist sein Motto, die Gänsefüßchen bei dem Wort Göttin lässt er jedoch weg:
"Auch in den Jahrtausenden, die auf die Zeit der T-Pfeiler folgen, erscheint bisher nichts, dass sich mit ihnen messen könnte. Die miniaturhaften Figürchen des 2000 Jahre jüngeren Çatal Höyük, von der Größe von 20 cm doch fast monumental wirkenden Göttin auf dem Leopardenthron vielleicht abgesehen, und auch die im Format etwas eindrucksvolleren Wandreliefs dieses jungsteinzeitlichen Siedlungsplatzes sind wie levantinische Rundbilder, wie sie z.B. aus Ain Ghazal bekannt sind, nur ein matter Abglanz der großformatigen Kunst aus Stein, die wir vom mittleren Euphrat kennen." (S.82)

Auch der Aufsatz von Svend Hansen erwähnt die Statuette und wir sehen das Foto jedoch mit einem nachträglich anmodellierten Menschenkopf in Anlehnung an Mellaart. Der Text wiederholt den Tenor Cuttings.
Eine vor dem Hintergrund dieser Diskussion seltsame Einigkeit herrscht darüber, dass die Statuette eine weibliche Respektsperson darstellt! In ihr offenbart sich also Matrifokalität. Die Figurine vom Typ "Fat Lady" wurde in einem Kornbehälter gefunden. Ihre Fettleibigkeit könnte daher ein Symbol für gesicherte Ernährung sein. Der Sicherheitsaspekt zielt aber eher auf den Schutz vor ungebetenen Gästen als auf einen Fruchtbarkeitszauber, also nicht Vermehrung des Getreides sondern dessen Bewahrung. Ein von Mellaart als Kinderkopf gedeuteter kleiner Wulst im Schoßbereich reicht meines Erachtens nicht aus, den Feliden-Thron als Gebärstuhl zu deuten. Die Haltung der Frau ist nicht die einer Gebärenden und der Wulst ist möglicherweise das Überbleibsel eines anderen Gegenstandes. Eine endgültige Deutung kann niemand mit Gewissheit formulieren, eine annähernde Deutung wegen des fehlenden Kopfes und der Beschädigungen ist nicht möglich. Mellaart hat eine Rekonstruktionszeichnung angefertigt, auf der wir einen menschlichen Kopf sehen. Die Statuette könnte natürlich nach Stand der Dinge eine neue Interpretation erfahren. Möglicherweise stellt sie nicht die Göttin selbst dar, sondern die Stammesobere oder Priesterin.

Forschungsergebnisse getürkt?

Was hier vorgeht, ist der Versuch, jegliche matristische Gesellschaft in Çatal Höyük zu leugnen und die Forschung auf diesem Gebiet mundtot zu machen. Für den gesamten anatolischen Raum sollen tausende weiblicher Figurinen plötzlich keine Bedeutung mehr haben? Wir sollen wieder an das Patriarchat von Anbeginn an glauben. Warum das?

Anhaltspunkte zur Beantwortung dieser Fragen könnten Fakten liefern, mit denen schon Mellaart konfrontiert war: Die türkische Regierung hatte die Grabung in Çatal Höyük gestoppt als Mellaart seine brisanten Ergebnisse veröffentlichte. Das türkische Volk, in oberflächlich laizistischem Patriarchat lebend, sollte nicht erfahren, dass die Frau einst frei und selbstbestimmt war. Gesprochen wird darüber nicht mehr, deklariert wird diese Phase als "Pause". Großzügig unterstützt nun, 30 Jahre später, die türkische Regierung nicht nur die Ausgrabungen, sondern auch die Ausstellung in Karlsruhe. Ein Grußwort erklärt die Urgeschichte Anatoliens zur Geschichte der Türken, die dort erst in viel späterer Zeit aus Zentralasien eingewandert sind. Die deutsch-türkische Freundschaft und die Vorbereitung auf den EU-Beitritt wird beschworen, Nettigkeiten allenthalben.

Hodder überlässt es einer Frau, Marion Cutting, den Bärendienst zu leisten. Absicht oder Zufall? Der entstandene Schaden besteht jedenfalls darin, dass es Jahrzehnte kosten kann, bis wir den Stand der Zeit vor der Deutung des Bärensiegels wieder erreichen. Die wenigsten MuseumsbesucherInnen bezweifeln schließlich die Autorität dieses Kataloges. Doch wenn wir mit offenen Augen zwischen den Vitrinen wandern, wenn wir uns keinen Bären aufbinden lassen, können wir bereichert nach Hause gehen.

Gabriele Uhlmann




Begleitprogramm zur Ausstellung: "Die ältesten Monumente der Menschheit", Seiten 126-134: Marion Cutting: "Die Bilder von Catal Höyük". Badisches Landesmuseum Karlsruhe z.H. des Kuratoriums. Rezension von Dr. Gerhard Bott.



Gegenwärtig scheint die Kritik am britischen Archäologen James Mellaart en vogue zu sein, die das Ziel verfolgt, seine Annahme, es habe auch im neolithischen Catal Höyük einen Kult der Muttergöttin gegeben, als fehlerhaft zu "entlarven"; denn auch der Ausgräber des anatolischen Göbekli Tepe, Klaus Schmidt vom DAI, tut dies mit ähnlichem Eifer (und ebensowenig Erfolg) wie Frau Cutting.
Während Schmidt in seinem Buch "Sie bauten die ersten Tempel", München 2006 Mellaarts "Muttergöttin" als Reptil zu entlarven glaubt, ist es bei Frau Cutting ein Bär, der ihr die gleichen Dienste leistet. Cuttings Fazit auf Seite 133: (Abbildungen S.128)
"Die Theorie der Muttergöttin, die Mellaart aufstellte, wird durch ein im Jahre 2005 gefundenes Stempelsiegel in Tiergestalt - wahrscheinlich eines Bären - endgültig widerlegt".
Endgültig? Ich werde kurz darlegen, daß es sich bei dieser apodiktischen Behauptung Cuttings um reines Wunschdenken handelt, und daß ihre Aussage einer wissenschaftlichen Prüfung nicht standhält:

1.  Selbst wenn die in Catal Höyük von Mellaart ausgegrabenen Symbole (wie Abbildung S.128, links im Cutting-Artikel), von denen er elf in seinem Buch (Catal Hüyük. A Neolithic Town in Anatolia. With 15 Color Plates, 121 Monochrome Plates and 56 line drawings. Mc Graw-Hill, N.Y. 1967 in "New Aspects of Archaeology, edited by Sir Mortimer Wheeler) abgebildet hat, von ihm grundlos und fehlerhaft als "Göttin" interpretiert worden wären, - was nicht stichhaltig erwiesen ist - wäre damit keineswegs Mellaarts "Theorie" von der Verehrung einer Muttergöttin im neolithischen Catal Höyük widerlegt. Diese "Theorie" leitet Mellaart ja nicht aus den genannten elf "Symbolen" her, sondern aus 33 eindeutig weiblichen Skulpturen, die die, dem Prähistoriker bekannten, Merkmale der paläolithischen "Großen Mutter" aufweisen (wie die von Laussel, Lespugne, Dolni Vestonice, Brassempouy etc.). Diese Skulpturen einer Göttin hat Mellaart in seinem Buch durch eine große Anzahl
von Photographien belegt.
Ich möchte Sie, sehr geehrtes Kuratorium und Frau Cutting nur auf die folgenden dreizehn aufmerksam machen: Monochrome 67,68,70 bis 79, 83, sowie auf die Color Plates IX und X, auf denen auch die der Archäologie bestens bekannte "Göttin auf dem Leopardenthron" zu sehen ist.

2.  Die "Theorie" der Göttin, die Cutting durch ihren Bären glaubt widerlegen zu können, stützt Mellaart also im Wesentlichen auf jene 33 Skulpturen, die ohne jeden Zweifel anthropomorph und auch weiblich sind, weil ihnen die charakteristischen Merkmale sowohl der paläolithischen "Großen Mutter", als auch der neolithischen
Muttergöttinnen aus späterer Zeit, eigen sind. Nur auf Grund dieses Befundes (das geht aus Mellaarts Ausführungen hervor) hat er auch die elf "Symbole" als Göttin interpretiert, zumal diese fast immer im Zusammenhang mit Symbolen des Stierkultes (wie Bukranien) auftraten.
Nun ist ja der "Kult der Muttergöttin", wie dieser der Kulturwissenschaft als verbunden mit dem Stierkult bestens bekannt ist, durch eine Vielzahl archäologischer Funde belegt, und zwar von Anatolien wie in der Ägäis, sowie Mesopotamien, Canaan, dem prädynastischen Ägypten bis zum Industal. Bereits viele Jahre vor Mellaarts Catal Hüyük-Buch wurde dieser neolithische Kult der Muttergöttin eingehend beschrieben von Edwin Oliver James, seinerzeit "Professor of the History and Philosophy of Religion in the University of London", in seinem Standardwerk: "The Cult of the Mother-Goddess. An Archaeological and Documentary Study". London 1959.
Wenn also Cutting die Meinung äußert, Mellaart habe eine völlig unhaltbare Theorie vom Kult einer Muttergöttin erfunden, so demonstriert sie damit zum einen ihren Mangel an Belesenheit und zum anderen an kulturwissenschaftlicher Bildung.

3.  Da - wie jeder Prähistoriker weiß - schon die paläolithische Göttin auch als "Göttin (Herrin) der Tiere" verehrt wurde, gab es neben Vogel- und Eulengöttinnen (als Todesgöttin) auch Frosch-, Fisch-, Leoparden- und Bärengöttinnen.
Deshalb ist es so bemerkenswert, daß Frau Cutting auch dieses unbekannt ist; denn sie vermag den sog. Bären-Stempel (auf S. 128) nur als "Bären" zu sehen (wie sie auf S. 128 und 133 schreibt) und der Gedanke, es könne sich vielleicht doch um eine Bärin handeln, kommt ihr gar nicht in den Sinn, und dies, obwohl nicht nur die Existenz einer "Bärin-Göttin" dies nahelegt, sondern auch folgender Tatbestand:
Jedem Prähistoriker ist bekannt, daß männliche Tiere im allgemeinen durch ihre Genitalien gekennzeichnet werden, weibliche Tiere hingegen meist zurückhaltender, und in vielen Fällen durch den, mit dem Geburtsakt so eng verbundenen, Nabel dargestellt werden. Für den in dieser Materie kundigen Kulturwissenschaftler weist das fehlende männliche Genitale und der abgebildete Nabel also weit eher auf eine Bärin als auf einen Bären hin.

Fazit:
Es ist demnach offenkundig, daß Cuttings Behauptung, Mellaarts Theorie der Mutter-Göttin sei endgültig widerlegt, wissenschaftlich unhaltbar ist, und daß sie sich selbst einen Bären aufgebunden hat, an dem sie schwer zu tragen haben wird.
Ich finde es bedauerlich, daß das Badische Landesmuseum einen derartig unwissenschaftlichen Beitrag seinem gebildeten Publikum zugemutet hat und zumutet.

Mit verbindlicher Empfehlung

Dr. Gerhard Bott
Eivissa, den 15. März 2007

Literaturverzeichnis